Genuss-Sache

Die Zukunft gehört England

Michael Weier

Das Wetter war beim Weinbau schon immer eine sehr wichtige Angelegenheit. Das erfahren Winzer in jedem Jahr wieder, wenn beispielsweise Frühjahrsfröste ihren Ertrag vernichten – wie 2021. Bei den aktuell angekündigten Hitzerekorden könnten nun Trockenstress und Sonnenbrand drohen. Immerhin sind heftige Gewitter angekündigt. Apropos Unwetter: Hagel ist natürlich auch eine Gefahr für die Trauben!

Laut einer Bauernregel sind die Vorhersagen gar nicht so schlimm: „Heißer Sommer, guter Wein“, lautet sie. Und schließlich finden viele Weinliebhaber nach wie vor, dass es in Frankreich, Italien oder Spanien die besseren roten Tropfen gibt als in Deutschland. In Großbritannien, das gerade von tropischen Temperaturen heimgesucht wird, gewinnen sie dem Klimawandel deshalb etwas Gutes ab: Der Weinanbau hat in den vergangenen 15 Jahren um 400 Prozent auf der Insel zugenommen und umfasst nun 3800 Hektar.

„Längere Wärmeperioden könnten perfekte Bedingungen für neue Sorten schaffen“, jubiliert gerade die „Daily Mail“. Der Redakteur träumt schon von home-grown Burgundern und „Baden-style red wines“. Wer mit der aktuellen Hitzewelle hadere, dem sei versichert, dass sie wenigstens einen positiven Effekt auf die britische Weinindustrie hat, heißt es in dem Artikel. Bisher konzen­trieren sich die Engländer vor allem auf die Sektherstellung, denn dafür müssen die Trauben nicht ganz reif sein. Dieses Jahr könnte zum ersten Mal aus Spätburgundertrauben ein stiller Rotwein gemacht werden. Bislang reifen in England nur seltsame Sorten wie Reichensteiner, die Briten hätten aber gerne auch Sauvignon blanc und Riesling.

„Aufgrund von Brexit ist es einfach lovely, dass der Wein vor der Haustüre zunehmend attraktiver wird“, sagt ein Weinhändler der Zeitung. Verlierer der Entwicklung sind erst einmal die Italiener, Franzosen und Spanier – später leider irgendwann die ganze Menschheit.



Adrienne Braun

Drei Milliarden Meter Strümpfe

Adrienne Braun

Der Mensch ist beschränkt. Seine Vorstellungsgabe gerät schnell an Grenzen. So weiß man zwar, dass die Dinosaurier vor rund 245 Millionen Jahren lebten, ohne zu begreifen, wie lang das tatsächlich her ist. Deshalb wird gern zu Vergleichen gegriffen: Die Entfernung von uns zum Mond ist zum Beispiel 9,6-mal so groß wie der Erdumfang. Der Erdumfang wiederum entspricht einer Strecke von rund 950 Marathonläufen. Für all jene, die sich auch das nicht vorstellen können: Ein Marathon ist gleich zwei Halbmarathons – und ein Halbmarathon entspricht ungefähr 700 Sahnebechern à 200 Millilitern.

Sahnebecher sind meine persönliche Vergleichsgröße. Denn wenn man mit vollen Händen die Haustür öffnet und dabei die Einkaufstasche so ungeschickt gegen die Wand drückt, benötigt man eine Strecke von 30 Metern, bis der kaputte Sahnebecher vollständig aus­gelaufen ist. In meinem Fall entsprachen 30 Meter 17 Stufen plus drei Fluren. Der kleine Rest, der sich beim Erreichen des Kühlschranks noch im Becher befand, ist auf meiner Hose gelandet.

Wobei das wirklich Bemerkenswerte ist, dass man sich in solchen Momenten nicht vorstellen kann, dass das auch anderen passiert. Man ärgert sich. Man hält sich für dusslig oder schusslig. Und warum? Weil man keine Vergleichsgröße hat. Dabei könnte man gnädig und milde mit sich sein, wenn man sich klarmachte, dass der Mensch von Natur aus eben dusslig ist. Denn selbst wenn man vielleicht mal seinen Geldbeutel verliert oder einen Pullover in der Bahn liegen lässt, ist das marginal im Vergleich zu anderen Verlusten. Engländer zum Beispiel verlieren pro Monat 1,3 Strümpfe. Geht man davon aus, dass es sich dabei um 40 Zentimeter lange Kniestrümpfe handelt, ergibt das hochgerechnet auf die gesamte englische Bevölkerung eine Strecke von drei Milliarden Metern verlorener Kniestrümpfe. Pro Monat! Um sich das noch mal vor Augen zu führen: Das entspricht 97 Millionen Sahnebechern à 200 Millilitern.

Und ich rege mich über einen einzigen kaputten Becher auf!

Ich weiß zwar nicht, in welchem Verhältnis dieser Sahnebecher zum Erdumfang steht, aber ich habe gelesen, dass die Erde 5,972 Trilliarden Tonnen wiegt. Um sich das vorzustellen: Der Mond ist um das 81-Fache leichter als die Erde. Der Mond müsste also 81-mal scheinen, um das Gewicht der Erde zu erreichen. Oder so ähnlich.

Ich glaube ja, dass man sich 5,972 Trilliarden Tonnen besser vorstellen kann, wenn man Socken heranzieht. Eine Socke wiegt im Vergleich zur Erde so viel wie ein Fleck im Vergleich zu 200 Milliliter leckerer Sahnesoße. Also so gut wie nichts. Weshalb ich mich fortan nicht mehr ärgern werde, wenn ich beim Essen schon wieder aufs Shirt gekleckert habe.



Dinge der Woche

Kurz nach dem Urknall

Tomo Pavlovic

In dieser Woche wurde ein neues Kapitel in der Erkundung des Weltraums aufgeschlagen. Die mit Spannung erwarteten Aufnahmen des neuen James-Webb-Superteleskops gewährten Blicke auf weit entfernte Welten von ungewöhnlicher Schönheit, die beinahe an die extraterrestrischen Impressionen einer barfüßig am Sandstrand in der Südsee posierenden Außenministerin heranreicht.

Die wunderliche Apparatur zeigt die tiefste und schärfste Infrarotaufnahme, die je gemacht wurde – samt Galaxien, die Hunderte Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden. Zwischen all dem apokalyptischen Sternengestöber, dem wabernden Russengasnebel und den rot-grünen Konsensstreifen konnten Astronomen auch einen Haufen gelben Glitzers identifizieren. Der hat sich nicht – wie zunächst fälschlich angenommen – als das gigantische Sylter Hochzeitsbüfett von Christian Lindner und Franca Lehfeldt entpuppt, für dessen Zubereitung die FDP das stillgelegte Kernkraftwerk in Brokdorf kurz hochfahren ließ. Die lästigen Brennstäbe landeten schließlich als Sondermüll in der Handtasche von Margot Käßmann.

In Wahrheit aber waren es die pulverisierten Reste der guten, alten Bundesrepublik Deutschland. Ein längst verglühter Wohlstandsplanet, auf dem die Züge pünktlich hielten und abfuhren, mit echten Reisenden darin, sogar vom Stuttgarter Hauptbahnhof aus, wo heute nur noch ein zementgrauer Mondkrater ohne Anschlussverbindungen gähnt. Ein sagenhafter Ort, dieses verblichene Deutschland, wo vieles reibungslos funktionierte, die Verwaltung, die Flughäfen, die Steuererklärung, der Mercedes-Diesel, von der Finanzierung des Eigenheims ganz zu schweigen, die Älteren werden sich weinend erinnern.

Doch das war, wie gesagt, vor langer, langer Zeit, kurz nach dem Urknall, als Heizungsabdreher noch kein Ausbildungsberuf war und das Masterstudium Energiemissmanagement nicht die Voraussetzung für einen gut dotierten Job im Kanzleramt war.

Das Webb-Teleskop liefert im Nanosekundentakt frappierende Beweise dafür, dass Deutschland von einem Schwarzen Loch ungeahnten Ausmaßes verschluckt worden ist. Sein Zentrum ist eine Raum-Zeit-Singularität irgendwo in Berlin, höchstwahrscheinlich in der Müsli-Schale von Robert Habeck, in die der um sich selbst rotierende Supersparminister allmorgendlich voller Ermattung hinabblickt. Dort ziehen sich Zeit und Raum sowie Inflationen, der Euro-Kurs und die Gaspreise auf einen schmatzenden mathematischen Punkt zusammen. Sie besitzen keine Ausdehnung mehr. Es herrscht absolute Leere.



Große Grafik