Adrienne Braun
Der Mensch ist beschränkt. Seine Vorstellungsgabe gerät schnell an Grenzen. So weiß man zwar, dass die Dinosaurier vor rund 245 Millionen Jahren lebten, ohne zu begreifen, wie lang das tatsächlich her ist. Deshalb wird gern zu Vergleichen gegriffen: Die Entfernung von uns zum Mond ist zum Beispiel 9,6-mal so groß wie der Erdumfang. Der Erdumfang wiederum entspricht einer Strecke von rund 950 Marathonläufen. Für all jene, die sich auch das nicht vorstellen können: Ein Marathon ist gleich zwei Halbmarathons – und ein Halbmarathon entspricht ungefähr 700 Sahnebechern à 200 Millilitern.
Sahnebecher sind meine persönliche Vergleichsgröße. Denn wenn man mit vollen Händen die Haustür öffnet und dabei die Einkaufstasche so ungeschickt gegen die Wand drückt, benötigt man eine Strecke von 30 Metern, bis der kaputte Sahnebecher vollständig ausgelaufen ist. In meinem Fall entsprachen 30 Meter 17 Stufen plus drei Fluren. Der kleine Rest, der sich beim Erreichen des Kühlschranks noch im Becher befand, ist auf meiner Hose gelandet.
Wobei das wirklich Bemerkenswerte ist, dass man sich in solchen Momenten nicht vorstellen kann, dass das auch anderen passiert. Man ärgert sich. Man hält sich für dusslig oder schusslig. Und warum? Weil man keine Vergleichsgröße hat. Dabei könnte man gnädig und milde mit sich sein, wenn man sich klarmachte, dass der Mensch von Natur aus eben dusslig ist. Denn selbst wenn man vielleicht mal seinen Geldbeutel verliert oder einen Pullover in der Bahn liegen lässt, ist das marginal im Vergleich zu anderen Verlusten. Engländer zum Beispiel verlieren pro Monat 1,3 Strümpfe. Geht man davon aus, dass es sich dabei um 40 Zentimeter lange Kniestrümpfe handelt, ergibt das hochgerechnet auf die gesamte englische Bevölkerung eine Strecke von drei Milliarden Metern verlorener Kniestrümpfe. Pro Monat! Um sich das noch mal vor Augen zu führen: Das entspricht 97 Millionen Sahnebechern à 200 Millilitern.
Und ich rege mich über einen einzigen kaputten Becher auf!
Ich weiß zwar nicht, in welchem Verhältnis dieser Sahnebecher zum Erdumfang steht, aber ich habe gelesen, dass die Erde 5,972 Trilliarden Tonnen wiegt. Um sich das vorzustellen: Der Mond ist um das 81-Fache leichter als die Erde. Der Mond müsste also 81-mal scheinen, um das Gewicht der Erde zu erreichen. Oder so ähnlich.
Ich glaube ja, dass man sich 5,972 Trilliarden Tonnen besser vorstellen kann, wenn man Socken heranzieht. Eine Socke wiegt im Vergleich zur Erde so viel wie ein Fleck im Vergleich zu 200 Milliliter leckerer Sahnesoße. Also so gut wie nichts. Weshalb ich mich fortan nicht mehr ärgern werde, wenn ich beim Essen schon wieder aufs Shirt gekleckert habe.