Leitartikel

Der Westen unter Druck

Für die  einen ist die Bezeichnung  „alter, weißer Mann“  eine  Beschreibung, für andere hat sie bereits die Grenze zur Beleidigung überschritten. In jedem Fall spricht die Formulierung an, was viele heutzutage nicht mehr tolerieren wollen. Sie steht als Synonym für Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit,  für ein veraltetes und verkrustetes Weltbild. Der Begriff wird verwendet, um Zustände in der  Wirtschaft zu beschreiben, in  der Politik und in der Gesellschaft. Er ist aber auch auf das Verhältnis der Staaten untereinander übertragbar. Und da muss  Deutschland und mit ihm der sogenannte Westen    gewaltig aufpassen, in der globalen Perspektive nicht zum alten, weißen Mann zu werden.
Das klingt im ersten Moment vermessen. Schließlich ist das Land bestens integriert in der EU und in der Nato,  war gerade erst  hochgelobter Gastgeber des G7-Gipfels. Doch es sind gerade diese Strukturen, die den Blick für Veränderungen trüben. Jahrzehntelang haben die USA und die EU, die Nato oder die G7 das Geschehen auf der Welt weitgehend alleine bestimmt, unterstützt durch  ihnen nahestehende Institutionen wie Weltbank oder IWF. Sie haben  gesagt, was gut und was falsch ist, und wie sich andere Staaten zu verhalten haben. Doch der gewohnte Allwissenheitsanspruch  gerät massiv ins Wanken. Andere Allianzen bilden sich. Das   Treffen von Russland, Iran und dem Nato-Mitglied und immer noch EU-Anwärter Türkei in diesen Tagen ist  nur das jüngste  Beispiel dafür.
Dass dem sogenannten Westen starke Konkurrenz erwächst, wird nirgendwo so offenkundig wie im aktuellen Krieg, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat. Zwar haben sich in der UN-Generalversammlung lediglich Eritrea, Nordkorea, der Iran und Syrien offen an die Seite Russlands gestellt. So sagt es der Westen, und so kann man das auch sehen. Es lässt sich aber ebenso behaupten, dass die Vertreter von rund der Hälfte der Menschheit nicht aktiv gegen Russland gestimmt haben.
Das sind nicht nur die Bevölkerungsgiganten China und Indien.  Auch in Zentralasien, Südamerika und Afrika wird die Erzählung des Westens zwar gehört, aber nicht unbedingt geteilt. Südafrika und Brasilien kritisieren weniger den russischen Angriff als vielmehr die westlichen Sanktionen.  Kein Wunder: ob die Sanktionen in Russland Wirkung zeitigen, wird noch immer kontrovers diskutiert, in Afrika sind die Folgen bei jedem Einkauf ganz real im Portemonnaie zu spüren.  Die sogenannte westliche Welt wäre gut beraten mehr, sehr viel mehr zu unternehmen, um ihre Sicht der Dinge zu erklären. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass die Welt unsere Sicht auf den Krieg und seine Ursachen teilt. Auf das große Ganze ohnehin nicht.
Es ist ja nicht so, dass tiefe  Liebe und Zuneigung dafür verantwortlich sind, dass der Hashtag „#standwithrussia“ ( auf Russlands Seite) im März alle indischen Rekorde sprengte oder dass chinesische  Kühlschränke in Afrika als besonders haltbar gelten. Aber viele Staaten sehen endlich die  Möglichkeit, gegen jahrzehntelange Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit aufzubegehren.   Sie packen die Chance, sich nicht mehr vorschreiben lassen zu müssen, was man zu denken hat,   beim Schopf.  Das gleicht einer  Trotzreaktion, aber es ist eine, die dem sogenannten Westen  gefährlich werden kann.  Über Jahrzehnte hat der  wirtschaftliche Sanktionen als Mittel benutzt, um seine Politik international durchzusetzen. Das hat leidlich funktioniert,    solange die Macht auf dem Globus sehr einseitig verteilt gewesen ist.   Jetzt wird es schwieriger. Die mächtigste  Waffe wird zunehmend stumpf.