Leitartikel

Die Sucht nach neuen Schulden

Reiner Ruf

Stuttgart Es ist gut, dass es die Schuldenbremse gibt – und dass sie allen Anfechtungen trotzt, denen sie ausgesetzt ist. Dieses Instrument hat sich in der Coronakrise bewährt, weil es in der Stunde der Not sehr flexibel gehandhabt werden kann. Vielleicht sogar ein bisschen zu flexibel, wie der Blick auf den Landeshaushalt lehrt. In der Pandemie erhöhte die grün-schwarze Regierung um Winfried Kretschmann die Schuldenlast des Landes um fast 15 Milliarden Euro und damit um fast ein Drittel des Gesamtbestands, der nun bei 60 Milliarden Euro liegt.

Zugleich deckte der Landesrechnungshof gerade auf, dass die Regierung in Stuttgart auf einer Schatzkiste von sage und schreibe 20 Milliarden Euro nicht valutierter Kredite sitzt. Das gab es in dieser Höhe noch nie. Es handelt sich um Verschuldungsrechte, die noch nicht realisiert worden sind. Das heißt nun nicht, dass – wie die SPD insinuiert – die Landesregierung in Geld schwimmt und aus dem Vollen schöpfen kann. Einen bedeutenden Anteil an diesen noch nicht abgerufenen Krediten nimmt die Risikovorsorge für die Coronapandemie ein: Das Hamstern ist sowohl Ausdruck der unsicheren Zeit, in der wir leben, wie auch die finanzpolitische Reaktion darauf. Dazu kommen Rücklagen für bereits präzise definierte Zwecke. Deutlich wird indes, dass in den Finanzpipelines des Landes eine Menge Geld steckt. Geld, das in seiner Verwendung keineswegs in toto rechtlich gebunden ist. Es bestehen Gestaltungsspielräume.

Und so tun Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein Finanzminister Danyal Bayazrecht daran, bei der Aufstellung des Doppeletats für die Jahre 2023 und 2024 den diesmal besonders expansiven Ausgabewünschen der Ministerien, der Regierungsfraktionen und der Opposition entgegenzutreten. Gelegenheit dazu haben sie an diesem Dienstag, wenn die Haushaltskommission der Koalition den Etat berät.

Die Sucht nach mehr Geld hat einen strukturellen und einen von Grün-Schwarz selbst verschuldeten Antrieb. Der strukturelle: Im wohlfahrtsorientierten Interventionsstaat begegnen sich eine Gesellschaft, die auf eine umfassende Absicherung individueller Lebensrisiken bedacht ist, und eine Verwaltung, die in einem selbstreferenziellen Prozess ständig neue Regelungsbedarfe entdeckt. Denn ein Bürokrat ist nur dann sicher, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er sich auf eine Rechtsvorschrift berufen kann. Jenseits davon begibt er sich in Gefahr. Die Koalition trägt aber auch selbst Verantwortung, wenn sie sich jetzt finanzpolitisch unter Druck sieht. Das liegt an dem zwischen Grünen und CDU ausgehandelten Koalitionsvertrag. Das Papier ist ein Schaufenster voller Herrlichkeiten, nur steht leider alles unter Finanzvorbehalt. Und nun müssen sich Winfried Kretschmann und sein Vize Thomas Strobl vorhalten lassen, das Publikum hinter die Fichte geführt zu haben: große Versprechen, wenige Taten.

Grün-Schwarz sollte nicht den Fehler begehen, auf das erneute Aussetzen der Schuldenbremse aufgrund von Energiekrise und Inflation zu setzen. Das kann nötig werden – oder auch nicht. Hoffentlich nicht. Das Fundament der Staatsfinanzierung sind Steuern. Leistungslosen und leistungsarmen Reichtum gibt es in diesem Land genug. Vor dem Drehen an der Steuerschraube aber muss der Staat seine eigenen Strukturen überprüfen. „Aufgabenkritik“ ist eine der meistgebrauchten Leerformeln – auch in der Landespolitik. Das Aufbrechen dysfunktionaler Verwaltungsstrukturen könnte viel privates Geld mobilisieren und schöpferische Energie freisetzen – mehr, als ein Tyrann wie Putin uns in Form von Gas abdrehen kann.