Leitartikel 

Zeit der Ungewissheit

Das Wort ist zum Ohrwurm geworden. Doch es beschreibt unsere Erfahrungen nach dem Angriff auf die Ukraine in einer viel umfassenderen Weise, als Bundeskanzler Olaf Scholz vor zehn Monaten in seiner Regierungserklärung ausdrücken wollte: Wir erleben seitdem eine Zeitenwende in vielerlei Hinsicht. Die Verhältnisse haben sich so grundstürzend wie nachhaltig gewandelt wie zuletzt beim Zusammenbruch dessen, was früher „Ostblock“ hieß. Die Welt ist mit einer geradezu beunruhigenden Radikalität in Unordnung geraten. Viele vermeintliche Gewissheiten sind perdu. Was überwunden schien, holte uns wieder ein. Dieses Jahr, das nun zu Ende geht, war ganz bestimmt kein gutes – aber es hat uns nicht nur Schlechtes beschert.

Wir sind nach Putins völkerrechtswidrigem Militärschlag „in einer anderen Welt aufgewacht“, so hat es Außenministerin Annalena Baerbock formuliert. In Europa herrscht kein Frieden mehr. Nicht mehr als 1000 Kilometer von Berlin entfernt, so nah wie Florenz oder London, bekriegen sich Hunderttausende von Soldaten, explodieren Bomben und Raketen, die gezielt die Zivilbevölkerung oder lebenswichtige Infrastruktur treffen sollen: Kraftwerke und Krankenhäuser. Kriegsverbrechen sind in diesem Konflikt kein Tabu. Ein Atomkrieg erscheint plötzlich wieder als reale Gefahr. Aufrüstung wird zur dringenden Notwendigkeit. Wir befürchten Stromausfälle, Energieknappheit, Versorgungsengpässe bei existenziell wichtigen Gütern wie etwa Medikamenten. Heizen wird fast zu einem Luxus. Viele fragen sich, ob ihnen die Inflation noch genug Geld zum Leben lässt. Es ist, als kehrten Gespenster der Vergangenheit zurück, vor denen sich heutige Generationen lange sicher wähnten, die sie schon vergessen hatten oder von denen sie gar nichts mehr wussten.

Die Zeitenwende hat unser Leben umgestülpt und die deutsche Politik weitgehend auf den Kopf gestellt. Milliardensummen, die für vernachlässigte Infrastruktur und Zukunftsinvestitionen dringend benötigt würden, werden in Waffen und Entlastungsprogramme gepumpt. Ausrangierte Kohlekraftwerke gehen wieder ans Netz. Der Atomausstieg ist vertagt, manche diskutieren gar eine Rückkehr zur Kernenergie. Der Krieg markiert das Ende einer Globalisierung, von der gewiss nicht alle Beteiligten, aber häufig viele Seiten profitiert haben.

Dennoch wäre es verfehlt, den Rückblick auf dieses schwierige Jahr als monotones Klagelied anzustimmen. Die multiplen Krisen eröffnen auch positive Aspekte. Wir alle und vor allem die Menschen aus der Ukraine, die im Kampf und die auf der Flucht, haben erfahren, was Solidarität bewirken kann. Zusammenhalt macht auch die Schwachen stark – das gilt im Kleinen wie auch in internationaler Dimension: in der Nato oder der EU. Verzicht (auf russisches Gas, auf Wohnraum zugunsten einquartierter Flüchtlinge, auf Geld, um zu spenden) kann auch Gewinn bedeuten – und sei es Erkenntnisgewinn: Für die Verhältnisse, in denen wir es uns mehr oder weniger kommod eingerichtet haben, gibt es keine Ewigkeitsgarantie. Die Zukunft verheißt vor allem eines: Ungewissheit.

Die jetzt durchlebte Zeitenwende stimmt uns ein auf eine noch viel größere Zumutung: Der Klimawandel wird nicht aufzuhalten sein, ohne dass wir unsere Lebensweise, unsere Konsumgewohnheiten, die Energiegewinnung und die Art des Wirtschaftens radikal ändern. Das bedeutet: höhere Kosten, mehr Verzicht, noch größere Ungewissheiten – verglichen mit all den Übeln und Beschwernissen des Jahres 2022. Insofern bleibt die Zeitenwende eine Daueraufgabe. Ihr Ende ist nicht absehbar.

Von Armin Käfer