Leitartikel

Mehr Stärke wagen

Ulrich Krökel

Niemand sollte sich von Wladimir Putin in die Irre führen lassen. Die Ankündigung des russischen Präsidenten, die Waffen seiner Invasionsarmee über das orthodoxe Weihnachtsfest schweigen zu lassen, ist ein perfider Propagandatrick. Denn klar ist: Hält sich die ukrainische Armee nicht daran, wird die russische Artillerie „zurückfeuern“. Und dann steht die Ukraine als die Partei da, die den Menschen im Kriegsgebiet nicht einmal zu Weihnachten etwas Ruhe gönnt. Das Zeichen, das der Kreml aussenden will, richtet sich an die eigene Bevölkerung: „Seht her, wir wollen Frieden, aber die Fundamentalisten in Kiew sind zu keinerlei Verhandlungen bereit.“

In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Putin hat immer wieder die Losung ausgegeben, dass es kein Zurück für die russische Armee geben werde. Zu Gesprächen ist der Kreml nur bereit, wenn die Regierung in Kiew der Aufgabe eigener Territorien zustimmt. Das käme einer Kapitulation gleich. Umso wichtiger ist es, dass der Westen sich in seiner Hilfe für die Ukraine nicht beirren lässt. Es ist gut und richtig, dass Deutschland, Frankreich und die USA nun leichte Kampfpanzer und Schützenpanzer liefern wollen. Es ist ein wichtiges Signal, dass sich die zögerliche Bundesregierung mit Marder-Panzern beteiligt. Auch auf diese Pläne zielt übrigens Putins Trick zur orthodoxen Weihnacht. Die Staaten des Westens stehen nun als Kriegstreiber da, während der russische Präsident vermeintliche Friedensbotschaften sendet.

Niemand sollte sich indes wundern, wenn sich all das als propagandistische Vorbereitung für eine weitere Mobilmachung in Russland erweist. Klar ist: Sollten die Waffen eine Weile schweigen, wird es die Ruhe vor dem nächsten Sturm sein. Dabei sollten die Staaten des Westens nicht die langfristige Perspektive aus den Augen verlieren. „Mehr Stärke wagen“, muss die Devise lauten. Das zielt nicht auf einen Regimewechsel in Moskau. Ein Sturz Putins lässt sich von außen ohnehin nicht erzwingen. Worum es gehen müsste, hat zuletzt Christoph Heusgen skizziert, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Den Menschen in Russland und den Eliten müsse „klar werden, dass eine gute Zukunft mit Putin nicht möglich ist“.

Die Veränderung muss aus dem Land selbst kommen. Tatsächlich krankt besonders die deutsche Debatte daran, dass sich der Gedanke an eine russische Niederlage mit dem Horrorszenario eines Atomkriegs verbindet. Dabei ist es viel wahrscheinlicher, dass weitere Rückschläge für Putins Armee zum dauerhaften Ansehensverlust des Präsidenten und einem schleichenden Regimezerfall führen werden. Denn die äußere Aggression kann nicht verdecken, dass Putin den Russen immer weniger zu bieten hat, vor allem keine Idee für eine gute Zukunft. Der kremlkritische Soziologe Grigori Judin sagt: „Da ist rein gar nichts.“

Dank Putins retrosowjetischer Politik ist Russland im 20. Jahrhundert stecken geblieben und hat den Anschluss an die moderne Welt verloren. Der Weg zurück in die Gemeinschaft zivilisierter Staaten wird lang und schmerzhaft sein, weil er eine Aufarbeitung der eigenen Verbrechen voraussetzt. Aber es wird der einzige Weg sein, der dieser einstmals so reichen Kulturnation eine neue Perspektive bietet. Eine Hoffnung, von der Judin sagt, es gebe sie für seine Landsleute nur, wenn der Westen „daran glaubt, dass ein anderes Russland möglich ist“. Eine stärkere Unterstützung der Ukraine und die Hoffnung auf ein neues Russland sind deshalb zwei Seiten derselben Medaille. Wer an eine gute Zukunft Russlands glaubt, muss heute der Ukraine helfen, nicht zuletzt mit offensiveren Waffen. Damit Putin scheitert.