Leitartikel

Das Ende des Neoliberalismus

Reiner Ruf

Die soziale Ungleichheit in Staaten des Westens nähert sich dem Niveau der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an, der sogenannten Belle Époque. Wer in der Beletage geboren wird, bleibt oben. Wer unten auf die Welt geworfen wird, verharrt im Souterrain. Nach einer Phase sozialdemokratisch inspirierter Regierungspraxis nach dem Zweiten Weltkrieg begann Ende der 1970er Jahre der Siegeszug des Neoliberalismus, vorbereitet von Theoretikern wie Friedrich von Hayek und in Szene gesetzt von Margaret Thatcher in Großbritannien sowie Ronald Reagan in den USA – mit enormer Umverteilungswirkung. Das Mittel hierfür fanden sie in der Steuerpolitik.

Der Berliner Wirtschaftshistoriker Marc Buggeln legt in seiner Studie über die deutsche Steuerpolitik vom Kaiserreich bis heute dar, dass auch die deutsche Politik seit den 1980er Jahren von einem Bündnis aus Mittel- und Oberschicht geprägt war, das die Steuerbelastung der Reichsten systematisch reduzierte. Deutlich wird dies bei der Erbschaftsteuer: 2019 mussten die Empfänger der 40 größten Erbschaften und Schenkungen von jeweils über 100 Millionen Euro für ein Gesamterbe von 9,4 Milliarden Euro nur 172 Millionen Euro zahlen. Das entspricht einem Steuersatz von 1,8 Prozent. Es verfestigen sich neofeudale Verhältnisse. Eine Schicht von Enthobenen, die mit ihren Nachkommen aller materiellen Sorgen ledig sind, steht eine Hälfte der Bevölkerung gegenüber, deren Rücklagen um den Nullpunkt notieren. Dazwischen wabern mal mehr, mal weniger akute Abstiegsängste. Ein Großteil der Gesellschaft strampelt sich auf einer Rolltreppe ab, die nach unten führt. Sozialpsychologisch führt das zu Aggression als Reaktion auf Frustration. Der Demokratie tut das nicht gut.

Über – gemeinnützige – Stiftungen und allerlei Thinktanks, in denen gerne auch aus dem Rennen geworfene Politiker jederlei Couleur ein neues Auskommen finden, popularisiert die Oberschicht die Ideologie des Staatsabbaus, der Steuersenkung und der Ungleichheit. Dabei ist nicht die Gleichheit das Problem dieser Gesellschaft, sondern eine sich verfestigende Klassenbildung, wie sie in der Bildung überdeutlich ist und auch im Gesundheitswesen Gestalt annimmt. Und wer kann sich noch Wohneigentum leisten? Umgekehrt ist es doch so, dass die hohe Kapitalkonzentration bei der Jagd nach immer mehr Gewinn die Finanzmärkte in gemeingefährlicher Weise aufbläst – mit ständiger Explosionsgefahr.

FDP-Chef Christian Lindner rief erst an Dreikönig wieder nach Steuersenkungen für Unternehmen unter dem Druck des internationalen Standortwettbewerbs. Das freut die Dividendenempfänger, da schäumt der Champagner. Und auch der für die Spitzenverdiener verbliebene Soli soll weg. Zur Wahrheit gehört indes auch, dass es eine rot-grüne Bundesregierung war, die auf dem Höhepunkt der neoliberalen Welle die Finanzmärkte deregulierte und die Steuersätze senkte. Inzwischen löst schon Erleichterung aus, wenn international ein Mindeststeuersatz von 15 Prozent auf Konzerngewinne ins Auge gefasst wird.

Doch der Wind hat sich gedreht, sogar die Wirtschaftsweisen verlangen einen höheren Spitzensteuersatz. In Großbritannien scheiterte Liz Truss an den Finanzmärkten, nachdem sie umfassende Steuersenkungen angekündigt hatte. Wir brauchen keinen Rückbau des Staates unter Verweis auf eine angebliche Staatsfixiertheit der Bürgerschaft. Das ist das Gerede von Menschen, die für sich gerne jede Form der Steuervermeidung in Anspruch nehmen. Der Staat muss vielmehr seinen Gestaltungswillen beweisen.