Joachim Dorfs
Stuttgart
Die Bilder sind programmiert. Von diesem Mittwoch an ist die Räumung des Dörfchens Lützerath möglich, und vermutlich werden von diesem Zeitpunkt an Aufnahmen von brennenden Barrikaden, sich festkettenden Aktivisten und martialisch ausgestatteten Polizisten durch die Medien gehen, im Hintergrund unwirkliche gigantische Schaufelradbagger vor einer dystopisch anmutenden Landschaft.
Doch die Auseinandersetzung ist nicht auf den rheinischen Braunkohletagebau beschränkt. Lützerath ist überall. Dort zeigen sich bloß wie unter einem Brennglas die Probleme und Widersprüche deutscher Energie- und Klimapolitik. Es ist auf der einen Seite ein Wahnsinn mit Ansage. Die Millionen Tonnen Braunkohle, die abgebaggert werden sollen, sind angesichts der Notwendigkeit, die CO2-Emissionen zu reduzieren, verheerend. Kaum vorstellbar, dass jemand, der in 50 Jahren lebt, in der Rückschau den Braunkohletagebau für verantwortungsvoll hält. Andererseits ist es Teil des Kompromisses zwischen der schwarz-grünen nordrhein-westfälischen Landesregierung und RWE, bei dem der Energiekonzern in NRW acht Jahre früher aus der Kohleförderung aussteigt und dabei annähernd 300 Millionen Tonnen CO2 in der Erde verbleiben.
Die Kämpfe, die in Lützerath ausgetragen werden, sind das Ergebnis der deutschen Politik, im Zweifel auf Kohle zur Grundsicherung der Energieversorgung zu setzen und andere Energieträger geringer zu gewichten oder auszuklammern. Es müsste das Ziel deutscher Energie- und Klimapolitik sein, zuverlässig so viel Energie wie nötig bei möglichst geringen CO2-Emissionen zu erzeugen. Doch das wird nicht oder nur begrenzt erreicht. Die Versorgungssicherheit hat sich durch den Ausstieg aus Kernkraft und Kohle reduziert. Durch den Verzicht auf russisches Gas hat sich das noch einmal drastisch verschärft. Am 16. Dezember etwa, so rechnete das „Handelsblatt“ vor, standen einer Erzeugung von etwa vier Gigawatt aus erneuerbaren Energien ein Bedarf von 60 bis 70 Gigawatt gegenüber. Dieser musste gedeckt werden aus Gas-, Kohle- und Atomkraftwerken. Hinzu kam ein erheblicher Energieimport – im Zweifel aus den gleichen Quellen. Und beim Import ist Deutschland nicht zimperlich: Atomstrom aus Belgien, Frackinggas aus Katar und Nordamerika – alles das, was hierzulande politisch nicht durchsetzbar ist, wird wohlfeil importiert. Das sieht ja keiner so genau.
Weil Deutschland zum Ersatz des russischen Gases stark auf die Kohleverstromung setzt, ist der CO2-Ausstoß 2022 gestiegen, obwohl der Energieverbrauch – endlich (!) – gesunken ist. In dem Moment, in dem diese Zeilen geschrieben werden, stößt Deutschland für jede Kilowattstunde, die innerhalb der Landesgrenzen erzeugt wird, 474 Gramm CO2 aus. In Europa haben nur Polen und Bulgarien an diesem Nachmittag eine schlechtere Bilanz. Länder mit anderem Energiemix wie Frankreich (44 Gramm), Spanien (112 Gramm) oder Schweden (25 Gramm) sind da sauberer – und verantwortungsbewusster.
Sinnvoll wäre: ein Ausstieg aus der Kohle so schnell, wie es eben geht, eine längere Nutzung der Kernkraftwerke, die noch am Netz sind, sofern das noch technisch möglich ist, eine nationale Kraftanstrengung zum Energiesparen und eine Genehmigung neuer Wind- und Solarparks sowie Stromtrassen in der Geschwindigkeit, mit der das neue Flüssiggasterminal realisiert wurde.
Um Lützerath wird ein symbolischer – und hoffentlich friedlicher – Kampf geführt. Doch die Fehler sind woanders gemacht worden. Wenn Deutschland die Klimaziele einhalten will, muss es sich von der Kohle lösen.