Armin Käfer
Stuttgart
Wie viele Volksvertreter sind dem Volk zumutbar? Im Bundestag sitzen aktuell jedenfalls zu viele: 736 statt der gesetzlich vorgesehenen 598. Wegen der Tücken des Wahlrechts ist das deutsche Parlament mit Abstand das größte der freien Welt, gemessen an der Zahl der Köpfe, die es repräsentiert. Der aufgeblähte Bundestag ist aber nicht nur kostspielig. Mehr Abgeordnete machen keine bessere Politik.
Das Wahlrecht ist keine Petitesse – es geht um elementare Spielregeln der Demokratie. Seit zehn Jahren sind diese dringend reparaturbedürftig. Die kosmetischen Korrekturen vor der letzten Wahl waren offenkundig zwecklos. Insofern verdienen die Ampelfraktionen Beifall für ihren jetzt vorliegenden Reformvorschlag. Sie beweisen damit, dass der politische Apparat entgegen landläufiger Vorurteile sehr wohl zur Selbstkorrektur und Selbstbeschränkung in der Lage ist. Das ist für sich betrachtet gut so.
Die Ampelpläne haben aber einen großen Makel: Sie gehorchen nicht strikt den Vorgaben der Verfassung, wonach Abgeordnete in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gekürt werden müssen. Der von der Regierungskoalition geplante Eingriff gefährdet die Gleichheit der Wahl. Vorgesehen ist nämlich, dass die Zweitstimme künftig zu einer „Hauptstimme“ werden soll. Die mit der Erststimme ermittelten Sieger in den Wahlkreisen können mit Rücksicht auf den bei 598 Sitzen limitierten Bundestag nicht überall darauf hoffen, dass sie im Parlament Platz nehmendürfen. Damit der per Zweitstimme ermittelte Parteiproporz gewahrt bleibt, sollen die Kandidaten mit den schlechtesten Wahlkreisresultaten nicht zum Zuge kommen.
Das hat drei gravierende Nachteile. Erstens würden sich in den betroffenen Wahlkreisen die Wähler der siegreichen, aber nicht nach Berlin beförderten Kandidaten vorkommen, als hätten sie ihre Stimme in den Müll geworfen. Es ist um unsere Demokratie aber nicht so gut bestellt, dass es ratsam wäre, Wähler zu verprellen. Zweitens wären manche Wahlkreise dann im Parlament gar nicht direkt vertreten. Drittens würde das die Unabhängigkeit der Abgeordneten schwächen. Wer von den Kandidaten sichergehen will, dass er bei erfolgreicher Wahl wirklich einen Sitz im Bundestag erhält, müsste sich auf der Landesliste seiner Partei an aussichtsreicher Stelle platzieren lassen. Darüber entscheiden aber die Parteioberen – die stromlinienförmiges Verhalten eher belohnen als einen eigenen Willen.
Auch die Alternativvorschläge der Union haben ihre Macken. Immerhin bequemen sich die C-Parteien endlich zu eigenen Reformideen. Sie schlagen nun vor, die Zahl der Wahlkreise zu verringern – was sie bisher partout verhindern wollten. Tatsächlich birgt das die Gefahr, dass die Verankerung der Demokratie in der Fläche erodiert. Das zuvor von der Union favorisierte „Grabenwahlrecht“, wonach die eine Hälfte der Parlamentssitze den Wahlkreissiegern, die andere Listenkandidaten zufällt, hätte immerhin den Vorzug, dass es leicht durchschaubar ist, keine Überhangmandate anfallen und kein Wahlkreis verwaisen würde. Größere Parteien wären dadurch jedoch automatisch im Vorteil. So ist das bei allen Vorschlägen: Hinter ihnen verbergen sich auch taktische Absichten – zum jeweils eigenen Nutzen.
Wenn die Ampelmehrheit sich durchsetzt, dann wäre das eine Reform von begrenzter Haltbarkeitsdauer. Verfassungsbeschwerden wären programmiert. Die Krux des Wahlrechtsist das eingebaute Versprechen, möglichst vielen Ansprüchen gerecht werden zu wollen. Davon sollte sich der Gesetzgeber verabschieden.