Leitartikel

Ein Wagnis – aber notwendig

Bernhard Walker

Berlin Ein OP-Saal ohne Strom, Skalpell und Hygiene? Kein Mensch käme auf die Idee, dass es in der modernen Medizin ohne diesen Standard ginge. Bei einem anderen wichtigen Element der Medizin jedoch hängt Deutschland weit zurück – ein Manko, das Gesundheitsminister Karl Lauterbach nun angeht.

Denn es ist im Interesse der Patienten, dass die Wissenschaft medizinische Daten erhalten und auf pseudonymisierter Basis (ein Name wird durch ein Pseudonym, eine Zahlen- oder Buchstabenkombination ersetzt) mit ihnen forschen kann. Diese Daten liegen längst an verschiedenen Stellen vor– sei es bei den Krankenkassen, den Krebs- und Traumaregistern oder den Studienzentren. Doch diese voneinander abgeschotteten Datensilos nutzen wenig. Die klinische Forschung ist somit bei Weitem nicht so gut, wie sie es sein könnte (und müsste). Dass ausgerechnet das Lieblingsunternehmen der Berliner Politik, der Impfstoffpionier Biontech, seine Forschung nach Großbritannien verlegt, ist ernüchternd.

Umso besser, dass Lauterbach nun das Ruder herumreißen will. Denn wie sagte Dorothea Wagner, die damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats, im Juli 2022: „Die Nichtnutzung von Daten kann Menschenleben kosten.“ Die EU-Datenschutzverordnung übrigens gibt der Forschung genug Freiraum: Man muss ihn nur so nutzen, wie andere EU-Staaten es schon tun, in denen die Verordnung auch gilt.

Neben der rechtlichen Ebene gibt es aber auch eine gesellschaftliche. Und diesen Aspekt vernachlässigt Lauterbach: Es braucht ein breites Bündnis aus Ärzten, Wissenschaftlern, Kassen und Politik, um die Chancen der Neuerung deutlich zu machen. Denn die ist für viele zunächst fremd und ungewohnt. Trotzdem wertet Lauterbach Schweigen als Zustimmung: Jeder bekommt die E-Akte, wenn er oder sie nicht ausdrücklich widerspricht („Opt-out“). Natürlich wäre es prima, wenn das Zeitalter der Papierakte und der Arztbrief- oder Befund-Faxerei endlich zu Ende ginge. Allerdings muss Berlin vor dem „Opt-out“ deutlich machen, wozu die E-Akte eigentlich dient.

Worum es geht, zeigt ein einziges Beispiel: Etwa 250 000-mal im Jahr müssen nach Angaben der Bundesregierung Patienten allein deshalb in die Klinik, weil es bei ihnen zu gefährlichen Wechselwirkungen von Medikamenten kam. Wenn aber Ärzte, Notfallsanitäter, Apotheker und Kliniken in der E-Akte sehen können, was jemand einnimmt und welches zusätzliche Präparat sich damit nicht verträgt, lassen sich sehr viele Medikationsfehler vermeiden.

Noch allerdings können sich die meisten Bürger nichts unter der E-Akte vorstellen. Ebendeshalb sollte Lauterbach das Bündnis zimmern, weil er sonst den zweiten Schritt vor dem ersten geht. Vor allem muss er schleunigst die offenen Fragen klären, die es nach wie vor gibt. Unklar ist, welche Technik mehr als hunderttausend Arztpraxen nutzen sollen, um die Akte einfach ausfüllen zu können. Die Ärzte hegen verständlicherweise große Skepsis, weil die Digitalisierung ihnen viel Arbeit und Ärger mit meist nicht funktionierenden Anwendungen beschert hat.Da ist ein Neustart überfällig. Denn eine leere Akte oder eine, die nicht aktuell ist, braucht kein Mensch.

Mit dem „Opt-out“, keine Frage, geht Lauterbach ein Wagnis ein. „Opt-out“ heißt ja: Jeder soll sich individuell mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen befassen. Ohne Aufklärung und Vertrauen wird die Neuerung scheitern. Und das wäre für die medizinische Forschung, die Versorgung und damit für die Patienten ein Debakel.