Leitartikel

Bedeutend, aber nur ein Zeichen

Christian Gottschalk

An Ermittlern mangelt es nicht. Praktisch seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine werden dort Beweise erhoben, um später einmal die Verantwortlichen der zahlreichen Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Natürlich sind ukrainische Behörden aktiv, der Internationale Strafgerichtshof hat ein Team vor Ort, auch zahlreiche Nationen aus Europa unterstützen die Spurensuche. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe hat ein Strukturermittlungsverfahren laufen. An Hinweisen auf Kriegsverbrechen mangelt es eben so wenig. Russische Soldaten haben in großer Zahl grausam mit der Zivilisation gebrochen, Führungskräfte haben dies gewusst und befördert. Woran es bisher gemangelt hat, war ein starkes Zeichen, dass dem nicht nur mit Granaten entgegengewirkt wird, sondern auch mit dem Gesetzbuch.

Der Internationale Strafgerichtshof hat nun das stärkste Zeichen gesetzt, zu welchem er fähig ist. Einen Haftbefehl gegen einen amtierenden Präsidenten zu erlassen, das hat sich das Haager Gericht bisher nicht all zu oft getraut. Gegen Omar al Bashir, den damaligen Machthaber im Sudan zum Beispiel oder gegen den libyschen Despoten Muammar al-Gaddafi. Ihnen wurden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Diese Vorwürfe gibt es auch gegen Wladimir Putin.

Es ist allerdings zu befürchten, dass sich auch die Geschichte wiederholen könnte. Mit dem Haftbefehl ist das juristische Vorgehen gegen den russischen Kriegstreiber nämlich erst einmal beendet. Gerichtsverfahren in Abwesenheit sind in Den Haag nicht möglich. Dass Putin von Russland ausgeliefert wird, ist derzeit undenkbar. Vertragsstaaten des Gerichtshofs sind nun zwar verpflichtet, Putin festzunehmen, wenn er ihr Territorium betritt – doch das hat schon bei Bashir nicht funktioniert. Der blieb auch nach dem Haftbefehl noch ein Jahrzehnt an der Macht und besuchte andere Länder, bevor er gestürzt wurde. Viele afrikanische Staaten sprachen von Kolonialjustiz.

Das Zeichen, das der Internationale Strafgerichtshof gesendet hat, ist trotzdem alles andere als überflüssig. Es ist richtig – nur darf es dabei nicht bleiben. Auch wenn viele im Westen nun jubilieren: nicht alle Länder auf dieser Welt werden mit dem Vorgehen aus Den Haag einverstanden sein. Und Russland wird, wie so oft, damit beginnen, die Geschichte auf den Kopf zu stellen und sich selbst als Opfer zu präsentieren. Nicht nur in diesem Fall gilt es, massiv dagegen zu halten. Und es gilt noch mehr als bisher, Verbündete zu suchen. Wenn am Montag Chinas frisch wiedergewählter Staatschef Xi Jinping nach Moskau reist, dann besucht er einen gesuchten Kriegsverbrecher. Es ist wahrscheinlich, dass sich Xi noch demonstrativer als ohnehin an die Seite seines Nachbarn stellt. Aber es gibt andere Länder, deren Zuspruch für Russland eher wackeln könnte. Indien, Kasachstan, Brasilien oder Südafrika zum Beispiel sind schwankend. Mit Beharrlichkeit und Geduld gilt es, diese davon zu überzeugen, dass die russische Version der Geschichte aus dem Land der Märchen stammt.

Und es gibt die zeitliche Dimension. Heute erscheint es als unwahrscheinlich, dass Putin und seine Getreuen jemals von der Macht verdrängt werden könnten. Aber das hat man auch bei Slobodan Milosevic gedacht, als der an der Spitze Serbiens Kriegsverbrechen zu verantworten hatte. Irgendwann einmal kann es auch in Russland zu einem Regierungswechsel kommen. Wenn die neuen Machthaber dann das Unrecht aufarbeiten wollten, ist eine Überstellung Putins möglich. Zugegeben, das ist noch ein Blick in die weite Ferne. Aber bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt.


Leitartikel

Viel Porzellan zerschlagen

Tobias Heimbach

Es ging hoch her am Freitag im Bundestag. Einen „Betrug am Wähler“ witterte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt angesichts der Wahlrechtsreform der Ampelkoalition. Linke-Politiker Jan Korte nannte das Gesetz einen „Anschlag auf die Demokratie“ und verglich das Vorgehen von SPD, Grünen und FDP mit den „Tricksereien der Trump-Republikaner“.

Am Ende wurde die Reform mit den Stimmen der Koalition angenommen. Doch damit ist die Diskussion noch lange nicht ­vorbei, als Nächstes werden sich wohl die Verfassungsrichter in Karlsruhe mit dem ­Gesetz beschäftigen.

Dabei versperrt die berechtigte Kritik an der Reform den Blick auf dessen Errungenschaften. Die neue Regelung stellt sicher, dass der Bundestag künftig eine feste Größe hat: 630 Abgeordnete, nicht weniger und vor allem nicht mehr. Schon jetzt platzt das Parlament mit 736 Mitgliedern aus allen Nähten. Und es hätten in Zukunft noch mehr werden können.

Dass es nach den neuen Regeln vorkommen kann, dass ein Bewerber seinen Wahlkreis zwar direkt gewinnt, aber trotzdem nicht in den Bundestag einzieht, ist nicht schön – aber verschmerzbar. Der Bundestag hat bewiesen, dass er sich selbst reformieren kann. Die Abgeordneten entschieden, dass es künftig weniger von ihnen gibt. So ein Schritt erfordert es, die eigenen Interessen zugunsten des großen Ganzen zurückzustellen. Dem muss man Respekt zollen.

Doch darüber wird nicht gesprochen, weil die Ampel auf dem Weg zu diesem Gesetz so viel Porzellan zerschlagen hat wie eine ganze Elefantenherde. Daran ist die Koalition selbst schuld. Und zwar völlig ohne Not.

Als vor einer Woche der überarbeitete Entwurf des Gesetzes bekannt wurde, stand darin auch die Streichung der Grundmandatsklausel – anders als zunächst im Januar vorgestellt. Nur dank dieser Regelung zog die Linke nach der vergangenen Wahl mit 39 Abgeordneten in den Bundestag ein. Nach dem neuen Gesetz wäre sie dort gar nicht mehr vertreten gewesen. Und hätte die CSU bei Anwendung des neuen Gesetzes nur 0,3 Prozent weniger Zweitstimmen gehabt, dann wäre sie trotz 45 gewonnener Wahlkreise ebenfalls nicht im Bundestag gelandet. Wären die CSU und Linke nicht im Parlament vertreten gewesen, hätten sich neun Millionen gültige Stimmen nicht im Parlament wiedergefunden.

Ja, die Grundmandatsklausel ist ein Fremdkörper, und dass allein die Zweitstimme darüber entscheiden soll, wer in den Bundestag einzieht, ist eine klare und logische Regel. Doch lässt sich eine Wahlrechtsreform eben nie im luftleeren Raum gestalten. Man muss die Realität berücksichtigen. Und danach müssen CSU und Linke befürchten, mit dem neuen Gesetz aus dem Parlament draußen gehalten zu werden. Daher zürnen sie zu Recht.

Eine Veränderung an einem so sensiblen Thema wie dem Wahlrecht sollte am besten im Einklang mit der Opposition gestaltet werden. Das ist nicht immer möglich, was auch an der jahrelangen Blockadehaltung der CSU liegt. Dennoch muss so eine Reform über alle Zweifel erhaben sein, die politische Konkurrenz zu stark zu benachteiligen. Das ist hier nicht der Fall.

Die Härte dieser Debatte lässt Übles erahnen für die kommenden Jahre. Nämlich dass das Wahlrecht je nach wechselnder Mehrheit immer wieder verändert wird, ein zentrales Element der Demokratie als parteitaktischer Zankapfel. Im schlimmsten Fall hat die Ampel einen Zombie geschaffen, einen Untoten, der immer wiederkehrt. In diesem Fall zum Schrecken der Wähler.