Leitartikel

Höchste Zeit für Klartext

Christine Bilger

Stuttgart Der Prozess gegen den Inspekteur der Polizei hat eine Pause, erst nach den Pfingstferien geht es weiter. Doch Ruhe herrscht in dieser Zeit mitnichten. Dazu haben der Prozess und all die pikanten Details am Rande der Verhandlung schon zu viele Emotionen aufgewühlt. Bei Polizistinnen und Polizisten und auch bei Bürgerinnen und Bürgern, die sich zu Recht fragen: Was ist los in der Behörde? Geht es bei denen, die für Sicherheit und Ordnung sorgen sollen, drunter und drüber? In den Verhandlungspausen stehen immer wieder Grüppchen von Frauen auf dem Gerichtsflur zusammen und sprechen aus, was sie bewegt: Das ist die Polizei, die uns vor Übergriffen schützen soll? Wenn der ranghöchste Beamte im Land, der Inspekteur Andreas Renner, wegen sexueller Nötigung vor Gericht kommt, wie steht es dann um den Anstand der gesamten Organisation?

Der Schaden ist immens. Dass da ausgerechnet an der Spitze jemand sitzt, der sich offenbar derlei Verfehlungen erlaubt haben soll, erschüttert die Polizei zutiefst. Sektbesäufnis in den Diensträumen, Fummelei in einer Eckkneipe: Wenn die Führungsspitze den moralischen Kompass verloren hat, fällt das auch auf Tausende anständige Polizistinnen und Polizisten zurück – und die leiden unter diesem schlechten Ruf. Es ist dringend an der Zeit, dass Klartext geredet wird. Wenn Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz in einer internen Runde mit den Präsidenten sagt, das Verhalten des Inspekteurs sei nicht hinnehmbar, reicht das nicht. Zumindest einer sprach aus, was alle denken: Die Politik müsse endlich Position beziehen und klarmachen, dass Renner nicht mehr tragbar sei für die Polizei. Das ist ein überfälliges Signal. Natürlich steht das Disziplinarverfahren noch aus. Aber so dringend der Innenminister Thomas Strobl (CDU) Andreas Renner auf der wichtigen Position wollte, so notwendig ist nun eine Abkehr vom einstigen Wunschkandidaten.

Zu kritisieren ist vor allem der Umgang des Innenministeriums und der Polizeispitze mit der Affäre. Viel zu spät hat die Polizeipräsidentin erkannt, wie groß das Ausmaß des Schadens ist. Viele in der Polizei vermissen auch Selbstkritik bei ihr. Mit ihren Durchhalteparolen hat sie versucht, die Spitzenleute im Land einzufangen. Das ist viel zu wenig. Das wird auch am Donnerstag im Landtag deutlich werden. Die SPD hat eine Aktuelle Stunde beantragt zur Fehlerkultur in der Polizei. Denn der Umgang mit der Causa Renner, das lange Schweigen offenbart, dass diese Kultur nicht stark ausgeprägt ist.

Wer darunter am meisten leidet, sind die Frauen, allen voran die Hauptkommissarin, die den Mut hatte, Andreas Renner anzuzeigen. Es soll noch mehr Zwischenfälle und Affären gegeben haben, wie Insider berichten. Auf die Rückfrage, warum die Frauen das nicht anzeigen, wenn das stimmt, kommt stets die Antwort: „Aus Angst.“ Angst um die Karriere, die eigene psychische Gesundheit und nicht zuletzt den eigenen Ruf. Oder, wie es eine Prozessbeobachterin unlängst ausdrückte, als die Verteidigung wieder versuchte, die Anzeigeerstatterin als Frau mit wenig Sexualmoral darzustellen: „Ich verstehe jede Frau, die keine Anzeige erstattet. Das will niemand über sich ergehen lassen.“

Gemeint ist, was man der Justiz oft vorwirft: dass in Verfahren wegen Sexualstraftaten die Frau ein zweites Mal zum Opfer wird. Das geschieht ausgerechnet bei diesem polizeiinternen Fall leider wieder. Nicht nur die Glaubwürdigkeit der Hauptkommissarin, auch ihre Moral werden infrage gestellt. Auch das zeigt: Zu spät wurde reagiert. Zu wenig wurde Klartext geredet, um ihr diese Pein zu ersparen. Das ist beschämend.