Seit Hansi Flick das Sagen hat, ist das Leben für uns Deutsche wieder lebenswert. Ein Sieg jagt den anderen, 2:0, 6:0, 4:0, 2:1, 4:0, 9:0, 4:1, so hat noch kein Bundestrainer angefangen. Bequem und siegessicher haben wir uns auch zuletzt wieder auf die TV-Couch gelegt, nicht minder entspannt tippten in Eriwan die Kollegen schon vor dem Spiel den Vorspann in ihren Laptop: „Der Siegeszug unter Hansi Flick hält an, in seinem siebten Spiel wurde auch Armenien mit X:X abgeschossen.“ Das genaue Ergebnis wurde nach Abpfiff blitzschnell eingesetzt.
Soviel Sorglosigkeit hatten wir in puncto Nationalteam lange nicht mehr. Vor allem die Statistiker überschlagen sich, Flick ist ihr neuer Star, er hat als solcher schlagartig Joachim Löw abgelöst. Der war zuvor vielfach als der erfolgreichste Bundestrainer aller Zeiten gefeiert worden, aber dann hat Flick nicht nur Jogis Startrekord – fünf Spiele, fünf Siege – ausgelöscht, sondern auch Löws imposanten Schnitt von 2,05 Punkten pro Spiel. Flick hält sich eisern bei 3,0. Mehr geht nicht, und immer öfter hört man jetzt die Frage: Können wir wider Erwarten vielleicht doch schon wieder Weltmeister werden?
Im Sommer hätte sich Manuel Neuer, der Kapitän und Torwart, an der Stelle noch schallend totgelacht, aber neulich hat er nun todernst verkündet: „Der WM-Titel ist realistisch.“ Auch RTL-Experte Lothar Matthäus wird jeden Tag mutiger, er kommt zu den Länderspielen inzwischen schon im schicksten Feststagsmantel mit Kaschmirschal und sagt über Flick: „Es passt alles.“
Passt wirklich schon alles? Oder haben bisher vor allem die Gegner gepasst? Nach dem 9:0-Freudenfest gegen Liechtenstein behelligte ein faszinierter TV-Interviewer den Torschützen Thomas Müller mit der Frage, wohin dieser mitreißende Aufschwung noch führen könnte, worauf ihm der weit gereiste Bayer den Wind geschwind mit dem Satz aus den Segeln nahm: „Naja, die Gegner waren bisher nicht extrem schwierig, man muss da ein bisschen relativieren.“ Genauso gut hätte Müller sagen können: Wer Liechtenstein, Nordmazedonien, Island, Rumänien und Armenien mit Italien oder Frankreich verwechselt, hat ein Brett vor dem Kopf. Winston Churchill soll jedenfalls ganz ähnlich mit den Augen gezwinkert haben, als er einst meckerte: „Ich glaube nur Statistiken, die ich selbst gefälscht habe.“
Man muss mit Statistiken höllisch vorsichtig sein. Vor etwa zwei Jahren wurde Lucien Favre mitten im Siegeszug bei Borussia Dortmund dafür gelobt, dass sein Schnitt von 2,14 Punkten pro Spiel besser sei als der aller dortigen Trainer vor ihm – wenig später wurde er nicht gefeiert, sondern gefeuert.
Trotzdem werden die Statistiker immer mächtiger. Ihr rasanter Aufstieg, behaupten Geschichtsforscher, fiel mit dem 7. Dezember 2006 zusammen, als das Fußballmagazin „Rund“ meldete: „Einer von elf Profis ist schwul.“ Seither wollen wir Fans alles wissen: vom prozentualen Ballbesitz über die Zweikampfbilanzen bis hin zur Scheidungsrate der Torjäger. Bei Schalke 04 gab es vor Jahren einmal einen polnischen Verteidiger namens Tomasz Hajto, der die Fähigkeit besaß, den Ball beim Einwurf mit hoher Wurfgewalt in den gegnerischen Strafraum zu schleudern. Das wäre alles nicht weiter schlimm gewesen – bis dann eines Tages plötzlich ein TV-Kommentator sein Herrschaftswissen mit dem erschütternden Satz offenlegte: „Die letzten 114 weiten Einwürfe von Hajto haben zu keinem Tor geführt.“
Das sind die Momente, in denen man jäh an den unvergessenen IG-Metall-Chef Franz Steinkühler denken muss, der mit der Erkenntnis berühmt wurde: „Beim Stichwort Statistik denke ich an den Jäger, der an einem Hasen beim ersten Mal knapp links vorbei schoss und beim zweiten Mal knapp rechts vorbei. Statistisch gesehen ist der Hase tot.“
Statistik ist eine hoch komplizierte Sache, man sieht es auch jetzt wieder bei Hansi Flick. Kann man seine Erfolgsserie vergleichen mit der von Jogi Löw oder gar dem legendären Siegeszug unter Jupp Derwall, dem längsten in der deutschen Länderspielgeschichte? Derwall war eine rheinische Frohnatur, und seine strategischen Marschrouten, so hat uns der damalige VfB- und DFB-Vorstopper Karlheinz Förster erzählt, hörten sich so an: „Lasst uns ein gutes Spiel machen, dann können wir hinterher ein gemütliches Bierchen trinken und lecker Schnittchen essen.“ 23 Spiele lang hat sich die Nationalmannschaft von Mitte 1978 bis Ende 1980 den Lachs nicht von den Schnittchen nehmen lassen, da konnte als Gegner kommen, wer wollte – und das waren zu der Zeit noch nicht Aserbaidschan, Kasachstan oder Moldawien, da musste man als Fußballdeutschland schon noch die große Sowjetunion als Ganzes wegputzen. Nichts gegen die Seriensieger von später, fragt sich Altmeister Förster seither, „aber man müsste mal im Kicker-Almanach nachschauen, ob unsere Gegner damals nicht stärker waren.“
Die bisherigen Gegner unter Flick waren jedenfalls schwächer. Und sieben Siege am Stück müssen sowieso nicht viel heißen, fragen Sie Jimmy Connors. Der traf im Tennis-Masters-Finale 1980 auf seinen US-Landsmann Vitas Gerulaitis, und weil der gegen Connors von 16 Spielen zuvor kein einziges gewonnen hatte, wetteten viele Fans Haus und Hof auf Jimmy und sind heute bettelarm. Nach dem Spiel riet Gerulaitis den Reportern: „Leute, lasst Euch das eine Lehre sein: Niemand schlägt Vitas Gerulaitis 17 Mal hintereinander.“ Warten Sie also bei Hansi Flick noch ein bisschen. Wetten Sie erst auf ihn, wenn es heißt: 17 Spiele, 17 Siege.